Kapitel VI - Saxa loquuntur
Unruhig wälzte Gwendolin sich von einer Seite auf die
andere. Lyran hatte sie schon bald wieder verlassen mit den Worten, sie müsse
sich ausruhen. Vorher hatte er ihr noch alles über Lysander erzählt, was er
selbst wusste.
Er sei ein Schwarzmagier mit unheimlichen Fähigkeiten
und erst vor kurzem in diese Welt gekommen. Niemand wisse genau wie er aussehe,
aber er sei äußerst gefährlich und mit Oliver habe er die einzige Person
gefangen genommen, die ihm hätte schädlich werden können. WARUM das so war,
hatte Lyran ihr nicht sagen können, aber er hoffte, dass sie, Gwendolin, über
die gleichen Fähigkeiten verfügte wie Oliver, und dass sie damit Lysander
besiegen konnte.
KONNTE sie das denn? Bisher war ihr noch nicht
aufgefallen, dass sie besondere Fähigkeiten haben sollte. Sie hatte höchstens
das Talent in Schwierigkeiten zu geraten. So wie die Sache mit dem Wandteppich
und ihre daraus entstandene Ohnmacht. Nein, sie hatte gewiss keine Kräfte, die
Oliver helfen konnten.
Erneut drehte sie sich auf die andere Seite und starrte
in die Dunkelheit des Zimmers. Da war noch etwas, das sie nicht schlafen ließ.
Diese mysteriösen lateinischen Sätze. Dem Tapferen hilft das Glück... Die
Steine sprechen...
Beide Male waren die Zettel, auf welchen diese Worte
standen, verschwunden, nachdem sie diese übersetzt hatte. Langsam fragte sich
Gwen, ob es Botschaften für SIE waren, oder ob sie diese Zettel nur durch
Zufall erhalten hatte.
Der Ruf eines Käuzchens drang durch die nächtliche
Stille und ließ Gwendolin zusammenzucken. Tapfer... na besonders tapfer war sie
wohl nicht, wenn sie sich schon vor Eulenrufen gruselte. Und sprechende
Steine... seit wann konnten Steine sprechen? Sie waren leblose Materie, hart
und unbiegsam.
Je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer war
sich Gwen, dass es eine an sie gerichtete Botschaft war. Vielleicht eine Art
Rätsel, das sie lösen musste. Sprechende Steine... WIE konnten Steine sprechen?
Sie konnten eine Geschichte erzählen, wenn man etwas in sie hineinritzte...
Ja, das konnte es sein! Vielleicht musste sie ein Bild
suchen. Schließlich hatte auch alles mit einem Bild angefangen.
Gwendolin rutschte aus dem Bett und tappte mit bloßen
Füßen ans Fenster. Es war einen Spalt breit geöffnet und die kühle Nachtluft
ließ sie frösteln. DIESMAL hatte sie ein Nachthemd angezogen. Sie wollte sich
nicht schon wieder einen dummen Kommentar von Jacques einhandeln. Wo war der
kleine Fuchs überhaupt geblieben? Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie
auf dem Schloss angekommen waren...
Egal. Sie würde sich später Gedanken um Jacques
machen. Jetzt galt es erst einmal das Rätsel zu lösen. WO konnten sich hier
sprechende Steine befinden?
Nachdem sich Gwendolin einen langen Umhang mit Kapuze
übergeworfen hatte verließ sie ihr Zimmer und machte sich auf die Suche nach einem
ungewöhnlichen Stein oder einem Bild, welches das Rätsel auflösen würde.
Sooft sie Schritte hörte, wich sie in einen Nebengang
aus oder versteckte sich im Schatten einer Säule, denn irgendetwas warnte sie
davor, sich jemandem mitzuteilen.
Bald jedoch fragte sich die junge Frau, ob sie die
richtige Entscheidung getroffen hatte. Das Schloss war wirklich gewaltig und
die Gänge schienen kein Ende nehmen zu wollen. Mehr als einmal befürchtete Gwen
im Kreis zu laufen, doch jedes Mal entdeckte sie kurz darauf ein Bild oder eine
Statue, die sie bisher noch nicht gesehen hatte und sie beruhigte sich wieder.
Erneut trat sie durch eine Tür und stand mit einem Mal
im Freien. Es schien sich um einen weiteren kleinen Innenhof zu handeln,
vielleicht einen privaten Garten, auch wenn er sehr verwildert wirkte. Gerade
so, als wäre seit langer Zeit niemand mehr dort gewesen.
Neugierig trat sie weiter hinaus, raus aus den
Schatten der Mauern und geradewegs auf einen vom Mondlicht beschienenen Platz
in der Mitte des Hofes. Ein plötzliches Krächzen ließ Gwendolin erschrocken
zusammenzucken. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Dann erkannte sie den Urheber
des Krächzens und sie begann nervös zu Kichern. In einem Baum am Rande des
Hofes saßen einige Raben und beäugten sie misstrauisch. Vermutlich hatte sie
die Vögel in ihrem Schlaf gestört.
„Dem Tapferen hilft das Glück“, murmelte Gwen und
näherte sich immer mehr der Mitte. Jetzt konnte sie auch das Muster im Boden
erkennen. Scheinbar willkürlich waren dort verschiedene Steine zusammengelegt
worden, doch als sie direkt vor dem Mosaik stand bildeten die Steine Worte.
Audiatur et altera pars!
entzifferte
Gwen mit einiger Mühe. „Es möge auch die andere Seite gehört werden...“
Wieder
krächzte ein Rabe und sie sah kurz auf, kehrte aber sofort zu ihren Gedanken
zurück. Was sollten diese Worte nun bedeuten? Da war sie gerade froh gewesen,
die sprechenden Steine gefunden zu haben und nun bekam sie sofort das nächste
Rätsel.
„Halt
den Schnabel, du dämlicher Rabe!“, schimpfte sie halblaut, als der Vogel erneut
krächzte. „Wie soll man sich denn konzentrieren, wenn du einen solchen Krach
machst?“
Sie
wandte sich wieder der Steinnachricht zu und stutzte. Die Worte hatten sich
verändert! Nun lauteten sie:
Sapere aude!
Wage es, deinen Verstand zu
gebrauchen! Eindeutig ein Tadel, doch von wem?
„Gwendolin!“
Erschrocken drehte sich die junge
Frau um. Sie hatte nicht gehört, dass jemand den Hof betreten hatte. Es war
Lyran, der eilig auf sie zukam und zwei Schritte vor ihr stehen blieb.
„Gott sei dank, ich habe Euch
gefunden. Ich war etwas beunruhigt, als ich Euch nicht in Eurem Zimmer vorfand.
Das Schloss ist groß und Ihr könntet Euch leicht darin verlaufen. Bitte
versprecht mir so etwas nicht wieder zu tun.“
Im Mondlicht schimmerten seine Augen
wieder violett, für einen Moment schienen sie sogar von innen heraus zu
leuchten, doch dieser Eindruck verschwand sofort wieder.
„Ich... ich konnte nicht schlafen
und wollte mich etwas umsehen“, stammelte Gwendolin, die sich wunderte, warum
Lyran sie Nachts in ihrem Zimmer aufsuchen wollte, doch sie kam nicht dazu,
sich länger Gedanken darüber zu machen, denn sie fühlte wie Lyrans Ausstrahlung
sie wieder in seinen Bann schlug.
„Dieser Garten ist... recht
hübsch, aber er sieht etwas vernachlässigt aus. Gibt es einen Grund dafür?“
„Nein, wir benutzen diesen Teil
des Schlosses nur nicht mehr, wozu sollten wir dann den Garten pflegen?“,
antwortete Lyran und griff nach Gwendolins Hand. „Kommt, ich bringe Euch zurück
auf Euer Zimmer.“
Gwen warf einen letzten Blick
zurück auf das Mosaik und war nicht im Geringsten überrascht, dass sie nun
keine Worte mehr erkennen konnte.