Kapitel
VIII – Rose und Dolch
Irgendwie hatte Gwen es
schließlich geschafft, das Schloss unbemerkt zu verlassen. Wie es der Zufall
wollte, waren gerade einige Händler vor dem Tor und es gelang ihr, sich auf
einem der Wagen zu verstecken. Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie
sich wenden musste, aber sie vertraute darauf, dass ihr jemand helfen würde. Wer
immer ihr diese Botschaften schickte WOLLTE ja, dass sie Lysander fand. Wenn es
notwendig war, würde sie bestimmt ein weiteres Zeichen erhalten.
*
„Sie ist vor Lyran geflohen um
dich zu suchen, wie findest du das?“, fragte der Schatten vor ihm. „Morgen Abend
hat sie verloren, dann gehört ihr beide mir.“
„Jeder ist seines Glückes
Schmied“, antwortete Oliver matt und versuchte sich durch seine Worte selbst
Mut zu machen. „Sie wird die Wahrheit erkennen, da bin ich mir sicher.“
„So? Nun, wir werden sehen.“
Ohne ein weiteres Wort verschwand
die Gestalt und es wurde wieder pechschwarz um Oliver.
„Verdammt, ich sollte mich mehr
an meine eigenen klugen Sprüche halten“, murmelte Oliver und es tat ihm gut,
wenigstens eine Stimme zu hören, auch wenn es nur seine eigene war.
Ein leichtes Flackern ließ Oliver
überrascht aufblicken. Was war das? Er blinzelte. Nein, das Flackern war noch
immer da. Ganz leicht, in einem sanften, kaum sichtbaren Lichtschein formten
sich Buchstaben vor ihm in der Luft. Woher kamen sie?
Factum infectum fieri non potest
„Geschehenes kann nicht
ungeschehen gemacht werden – das ist wahr“, sagte Oliver, nachdem er den Satz
entziffert und übersetzt hatte. „Aber es hilft mir leider auch nicht weiter.
Ich muss Gwen doch irgendwie helfen können.“
Habent sua fata libelli
„Bücher haben Ihre Schicksale?
Das versteh ich nicht.“
Die Schrift flackerte stärker,
als sich die Worte erneut wandelten.
Nosce te ipsum
Gleich darauf erloschen die
Buchstaben und Oliver war wieder allein. Wie betäubt hing er in seinen Ketten
und dachte über die letzte Botschaft nach. Erkenne dich selbst!
*
Der Wagen, auf dem Gwendolin sich
versteckt hatte, war schneller gefahren, als sie gedacht hatte. Keine Chance,
unterwegs abzuspringen oder sonst wie das Gefährt zu verlassen.
Die Mittagsstunde war schon lange
vorbei, als der Händler endlich seine Pferde zum Stehen brachte und in einem
Wirtshaus einkehrte, das wohl auf fahrende Gäste eingestellt war. Es gab eine
Reihe von Stallungen und ein großes Nebengebäude, das vermutlich Zimmer für
zahlende Gäste beherbergte.
Als der Mann endlich in der
Gaststube verschwunden war – er schien nur eine kurze Pause einlegen zu wollen,
denn seine Pferde blieben eingespannt – streckte Gwen ihre steif gewordenen
Beine und rutschte dann vom Wagen.
Rasch verschwand sie im Schatten
der Gebäude und überlegte, in welche Richtung sie als nächstes gehen sollte.
Der Magier lebte laut Jacques
Auskunft in einer unwirtlichen Gegend... doch Gwen hatte keine Ahnung WO diese
Gegend sein sollte. Es wäre wohl besser gewesen, sie hätte sich zuerst genauer
erkundigt.
Nach einigem Herumirren war Gwen
schließlich in einen Schuppen geraten, der anscheinend als Lager diente. Körbe
voller Äpfel, volle Möhrenkisten, Zwiebel- und Knoblauchzöpfe, die verschiedensten
getrockneten Kräuter... alles lag, hing und stand ordentlich aufgereiht an den
Wänden.
Erst jetzt wurde ihr bewusst,
dass sie kaum etwas gegessen hatte und ohne groß zu überlegen nahm sie sich
einen Apfel aus einem Korb. Einer mehr oder weniger würde den Besitzer wohl
kaum arm machen.
Die junge Frau ließ sich mit dem
Rücken an einer Kiste zu Boden rutschen und knabberte an ihrem Apfel. Den Turm
des Magiers zu finden war nicht ihr einziges Problem. Wie sollte sie denn gegen
ihn antreten? Sie besaß doch keine Waffe, nichts, was ihr vielleicht hätte
helfen können.
Irgendwann döste Gwen schließlich
ein und hatte einen seltsamen Traum.
Sie befand sich auf einem
sandigen Boden. Es war Dunkel und nur ein Kreis von etwa fünf Metern
Durchmesser, in dessen Mitte sie stand, wurde von sanftem Licht erhellt. So
sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts außerhalb dieses Lichtkegels
erkennen. Selbst als sie einige Schritte vorwärts lief, bewegte sich der Kreis
mit ihr. Gwen schaffte es nicht sich aus der Mitte fortzubewegen.
Seltsamerweise ängstigte sie dieser Umstand aber nicht. Das weiche Licht,
welches sie umgab, sorgte für ein behagliches Gefühl von Geborgenheit.
Schließlich gab sie ihre
Anstrengungen auf und blieb stehen. Es musste ja einen Grund geben, weshalb sie
hier war.
Von irgendwoher kam mit einem Mal
eine Stimme – nicht laut, aber mit einem ganz besonderen Klang. Sie rief die
junge Frau beim Namen und Gwen antwortete. Als hätte die Stimme darauf
gewartet, begann sie einen lateinischen Satz zu rezitieren. Dabei kamen die
Worte mal von links, dann wieder von rechts, von oben oder unten, ab und zu
hörte Gwendolin sie sogar nur in ihrem Kopf.
Es waren alle Ratschläge, die
Gwen bisher auf Zetteln oder aus Stein geformt erhalten hatte.
Fortes fortuna audiavat
Saxa loquuntur
Audiatur et altera pars!
Sapere aude!
Incedit in Scyllam, qui vult vitare
“Hast du mir diese Ratschläge
gegeben?”, fragte Gwen die Stimme, welche die Sätze geformt hatte, doch es kam
keine Antwort. „Was bedeuten sie? Liege ich mit meinen Vermutungen richtig?
Faber est suae quisque fortunae
„Jeder ist seines Glückes
Schmied... Was willst du mir damit sagen? Muss ich es alleine herausbekommen?
DARFST du mir nicht helfen?“
Erneut erntete sie nur Schweigen.
Trotzdem wusste Gwen, dass sie nicht alleine war. Die seltsame Macht, die
hinter der körperlosen Stimme steckte, war bei ihr.
„Ich schaff das nicht alleine!“,
brach es plötzlich aus Gwen heraus. „Ich weiß weder wo noch wie ich Lysander
besiegen soll.“
Amicus certus in re incerta cernitur
Diesmal brauchte Gwen etwas
länger, um den Sinn des Satzes zu begreifen. Geduldig wiederholte die Stimme
ihn noch zweimal.
„In der Not... erkennst du... den
wahren Freund“, setzte Gwen schließlich zusammen. „Ok... ich bekomme also doch
noch Unterstützung, ja?“
Wieder schwieg die Stimme.
Anscheinend konnte oder durfte sie nur in Sinnsprüchen Rat geben, aber keine
genauen Erläuterungen.
„Also gut“, sagte Gwen
schließlich. „Kannst du mir vielleicht wenigstens sagen, wie Lysander aussieht?
Er könnte ja alles Mögliche sein – groß, klein, dick, dünn, mit Glatze oder mit
Vollbart. Wie soll ich ihn denn finden?“
Ex ungue leonem
„An der Klaue erkennt man den
Löwen? Toll... das hilft mir jetzt sehr weiter, wirklich“, seufzte Gwen. „Wenn
ich doch wenigstens wüsste, WIE ich ihn besiegen kann...“
In hoc signo vinces
Direkt vor Gwens Füßen brach der
Boden ein kleines Stück auf und eine wunderschöne Rose begann zu wachsen. Als
ihre Knospen aufbrachen und die
strahlend weißen Blüten ihre volle Schönheit entfalteten, leuchteten diese so
hell auf, dass Gwen für einen Moment die Augen schließen musste. Als sie diese
wieder öffnete, wanden sich die Rosenranken um einen silbernen Dolch, in dessen
Klinge sich das Mondlicht brach.
„In diesem Zeichen wirst du siegen“,
übersetzte Gwen die lateinischen Worte und beugte sich herab, um den Dolch zu
berühren.
Kaum hatte sie das getan, wurde
es wieder blendend hell und als sie diesmal die Augen aufschlug, befand sie
sich wieder im Lagerschuppen der Gaststätte und der Mond schickte seine sanften
Strahlen durchs kleine Fenster herein.
*
Nosce te ipsum – Erkenne dich
selbst!
Lange hatte Oliver gerätselt, was
diese Worte wohl bedeuteten, doch endlich, ENDLICH, war es ihm klar geworden.
Hatten die Flammen nicht von
einem BUCH gesprochen? In Büchern wurden Geschichten erzählt und jede
Geschichte hatte ihr Schicksal, das am Anfang nur einem bekannt war – dem
Erzähler.
Er – Oliver – hätte beinahe ein
schreckliches Schicksal erfahren. Das Schicksal, von seiner eigenen Geschichte
beherrscht zu werden. Aber nun, da er SICH SELBST ERKANNT hatte, konnte er
diesem Schicksal entgehen.
Ein Knirschen drang durch die
Stille des Kerkers und die Wände begannen leicht zu schwanken. Trotzdem lag ein
Lächeln auf dem Gesicht des jungen Mannes.
„Nein, Lysander. NOCH hast du nicht gewonnen. Ich gebe nicht
auf und werde dich in deine Schranken weisen.“
„Wir werden sehen, junger
Träumer“, drang die ruhige, emotionslose Stimme an sein Ohr. „Wir werden
sehen...“