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Mittwoch, 17. Dezember 2014

Die Macht der Phantasie - Teil 8

Kapitel VIII – Rose und Dolch


Irgendwie hatte Gwen es schließlich geschafft, das Schloss unbemerkt zu verlassen. Wie es der Zufall wollte, waren gerade einige Händler vor dem Tor und es gelang ihr, sich auf einem der Wagen zu verstecken. Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie sich wenden musste, aber sie vertraute darauf, dass ihr jemand helfen würde. Wer immer ihr diese Botschaften schickte WOLLTE ja, dass sie Lysander fand. Wenn es notwendig war, würde sie bestimmt ein weiteres Zeichen erhalten.

*

„Sie ist vor Lyran geflohen um dich zu suchen, wie findest du das?“, fragte der Schatten vor ihm. „Morgen Abend hat sie verloren, dann gehört ihr beide mir.“
„Jeder ist seines Glückes Schmied“, antwortete Oliver matt und versuchte sich durch seine Worte selbst Mut zu machen. „Sie wird die Wahrheit erkennen, da bin ich mir sicher.“
„So? Nun, wir werden sehen.“
Ohne ein weiteres Wort verschwand die Gestalt und es wurde wieder pechschwarz um Oliver.
„Verdammt, ich sollte mich mehr an meine eigenen klugen Sprüche halten“, murmelte Oliver und es tat ihm gut, wenigstens eine Stimme zu hören, auch wenn es nur seine eigene war.

Ein leichtes Flackern ließ Oliver überrascht aufblicken. Was war das? Er blinzelte. Nein, das Flackern war noch immer da. Ganz leicht, in einem sanften, kaum sichtbaren Lichtschein formten sich Buchstaben vor ihm in der Luft. Woher kamen sie?

Factum infectum fieri non potest

„Geschehenes kann nicht ungeschehen gemacht werden – das ist wahr“, sagte Oliver, nachdem er den Satz entziffert und übersetzt hatte. „Aber es hilft mir leider auch nicht weiter. Ich muss Gwen doch irgendwie helfen können.“

Habent sua fata libelli

„Bücher haben Ihre Schicksale? Das versteh ich nicht.“

Die Schrift flackerte stärker, als sich die Worte erneut wandelten.

Nosce te ipsum

Gleich darauf erloschen die Buchstaben und Oliver war wieder allein. Wie betäubt hing er in seinen Ketten und dachte über die letzte Botschaft nach. Erkenne dich selbst!

*

Der Wagen, auf dem Gwendolin sich versteckt hatte, war schneller gefahren, als sie gedacht hatte. Keine Chance, unterwegs abzuspringen oder sonst wie das Gefährt zu verlassen.
Die Mittagsstunde war schon lange vorbei, als der Händler endlich seine Pferde zum Stehen brachte und in einem Wirtshaus einkehrte, das wohl auf fahrende Gäste eingestellt war. Es gab eine Reihe von Stallungen und ein großes Nebengebäude, das vermutlich Zimmer für zahlende Gäste beherbergte.

Als der Mann endlich in der Gaststube verschwunden war – er schien nur eine kurze Pause einlegen zu wollen, denn seine Pferde blieben eingespannt – streckte Gwen ihre steif gewordenen Beine und rutschte dann vom Wagen.
Rasch verschwand sie im Schatten der Gebäude und überlegte, in welche Richtung sie als nächstes gehen sollte.
Der Magier lebte laut Jacques Auskunft in einer unwirtlichen Gegend... doch Gwen hatte keine Ahnung WO diese Gegend sein sollte. Es wäre wohl besser gewesen, sie hätte sich zuerst genauer erkundigt.

Nach einigem Herumirren war Gwen schließlich in einen Schuppen geraten, der anscheinend als Lager diente. Körbe voller Äpfel, volle Möhrenkisten, Zwiebel- und Knoblauchzöpfe, die verschiedensten getrockneten Kräuter... alles lag, hing und stand ordentlich aufgereiht an den Wänden.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie kaum etwas gegessen hatte und ohne groß zu überlegen nahm sie sich einen Apfel aus einem Korb. Einer mehr oder weniger würde den Besitzer wohl kaum arm machen.
Die junge Frau ließ sich mit dem Rücken an einer Kiste zu Boden rutschen und knabberte an ihrem Apfel. Den Turm des Magiers zu finden war nicht ihr einziges Problem. Wie sollte sie denn gegen ihn antreten? Sie besaß doch keine Waffe, nichts, was ihr vielleicht hätte helfen können.
Irgendwann döste Gwen schließlich ein und hatte einen seltsamen Traum.

Sie befand sich auf einem sandigen Boden. Es war Dunkel und nur ein Kreis von etwa fünf Metern Durchmesser, in dessen Mitte sie stand, wurde von sanftem Licht erhellt. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts außerhalb dieses Lichtkegels erkennen. Selbst als sie einige Schritte vorwärts lief, bewegte sich der Kreis mit ihr. Gwen schaffte es nicht sich aus der Mitte fortzubewegen. Seltsamerweise ängstigte sie dieser Umstand aber nicht. Das weiche Licht, welches sie umgab, sorgte für ein behagliches Gefühl von Geborgenheit.
Schließlich gab sie ihre Anstrengungen auf und blieb stehen. Es musste ja einen Grund geben, weshalb sie hier war.
Von irgendwoher kam mit einem Mal eine Stimme – nicht laut, aber mit einem ganz besonderen Klang. Sie rief die junge Frau beim Namen und Gwen antwortete. Als hätte die Stimme darauf gewartet, begann sie einen lateinischen Satz zu rezitieren. Dabei kamen die Worte mal von links, dann wieder von rechts, von oben oder unten, ab und zu hörte Gwendolin sie sogar nur in ihrem Kopf.
Es waren alle Ratschläge, die Gwen bisher auf Zetteln oder aus Stein geformt erhalten hatte.

Fortes fortuna audiavat

Saxa loquuntur

Audiatur et altera pars!

Sapere aude!

Incedit in Scyllam, qui vult vitare

“Hast du mir diese Ratschläge gegeben?”, fragte Gwen die Stimme, welche die Sätze geformt hatte, doch es kam keine Antwort. „Was bedeuten sie? Liege ich mit meinen Vermutungen richtig?

Faber est suae quisque fortunae

„Jeder ist seines Glückes Schmied... Was willst du mir damit sagen? Muss ich es alleine herausbekommen? DARFST du mir nicht helfen?“

Erneut erntete sie nur Schweigen. Trotzdem wusste Gwen, dass sie nicht alleine war. Die seltsame Macht, die hinter der körperlosen Stimme steckte, war bei ihr.
„Ich schaff das nicht alleine!“, brach es plötzlich aus Gwen heraus. „Ich weiß weder wo noch wie ich Lysander besiegen soll.“

Amicus certus in re incerta cernitur

Diesmal brauchte Gwen etwas länger, um den Sinn des Satzes zu begreifen. Geduldig wiederholte die Stimme ihn noch zweimal.
„In der Not... erkennst du... den wahren Freund“, setzte Gwen schließlich zusammen. „Ok... ich bekomme also doch noch Unterstützung, ja?“

Wieder schwieg die Stimme. Anscheinend konnte oder durfte sie nur in Sinnsprüchen Rat geben, aber keine genauen Erläuterungen.

„Also gut“, sagte Gwen schließlich. „Kannst du mir vielleicht wenigstens sagen, wie Lysander aussieht? Er könnte ja alles Mögliche sein – groß, klein, dick, dünn, mit Glatze oder mit Vollbart. Wie soll ich ihn denn finden?“

Ex ungue leonem

„An der Klaue erkennt man den Löwen? Toll... das hilft mir jetzt sehr weiter, wirklich“, seufzte Gwen. „Wenn ich doch wenigstens wüsste, WIE ich ihn besiegen kann...“

In hoc signo vinces

Direkt vor Gwens Füßen brach der Boden ein kleines Stück auf und eine wunderschöne Rose begann zu wachsen. Als ihre Knospen aufbrachen  und die strahlend weißen Blüten ihre volle Schönheit entfalteten, leuchteten diese so hell auf, dass Gwen für einen Moment die Augen schließen musste. Als sie diese wieder öffnete, wanden sich die Rosenranken um einen silbernen Dolch, in dessen Klinge sich das Mondlicht brach.   
„In diesem Zeichen wirst du siegen“, übersetzte Gwen die lateinischen Worte und beugte sich herab, um den Dolch zu berühren.
Kaum hatte sie das getan, wurde es wieder blendend hell und als sie diesmal die Augen aufschlug, befand sie sich wieder im Lagerschuppen der Gaststätte und der Mond schickte seine sanften Strahlen durchs kleine Fenster herein.

*

Nosce te ipsum – Erkenne dich selbst!
Lange hatte Oliver gerätselt, was diese Worte wohl bedeuteten, doch endlich, ENDLICH, war es ihm klar geworden.
Hatten die Flammen nicht von einem BUCH gesprochen? In Büchern wurden Geschichten erzählt und jede Geschichte hatte ihr Schicksal, das am Anfang nur einem bekannt war – dem Erzähler.
Er – Oliver – hätte beinahe ein schreckliches Schicksal erfahren. Das Schicksal, von seiner eigenen Geschichte beherrscht zu werden. Aber nun, da er SICH SELBST ERKANNT hatte, konnte er diesem Schicksal entgehen.

Ein Knirschen drang durch die Stille des Kerkers und die Wände begannen leicht zu schwanken. Trotzdem lag ein Lächeln auf dem Gesicht des jungen Mannes.
„Nein, Lysander.  NOCH hast du nicht gewonnen. Ich gebe nicht auf und werde dich in deine Schranken weisen.“
„Wir werden sehen, junger Träumer“, drang die ruhige, emotionslose Stimme an sein Ohr. „Wir werden sehen...“




 © Petra Staufer
Dieser Text darf NICHT ohne meine ausdrückliche Genehmigung weiterverbreitet und veröffentlicht werden!

Sorry, dass ich das dazuschreiben muss, aber es kam schon vor.