Kapitel
IX – Die andere Seite
Mondlicht! Hatte sie etwa so
lange geschlafen? Erschrocken sprang Gwendolin auf die Füße. Oliver! Sie wollte
ihn doch aus der Gewalt Lysanders befreien!
Vorsichtig schlich sie zur Tür
und spähte hinaus. Draußen war keine Menschenseele zu entdecken. Alles lag wie
ausgestorben.
In welche Richtung sollte sie nun
gehen? Gab es denn wirklich niemanden, der ihr helfen konnte? Der Satz aus
ihrem Traum fiel Gwen wieder ein: Jeder ist seines Glückes Schmied.
„Also gut“, murmelte sie. „Dann
riskieren wir es eben...“
Stundenlang – so schien es Gwen
zumindest – wanderte sie nun schon durch die mondhelle Nacht und die Gegend um
sie wurde immer trostloser. Seit einigen Minuten hatte Gwendolin das Gefühl,
nicht mehr allein zu sein, konnte aber niemanden entdecken. Entweder war da
tatsächlich niemand und ihre Einbildung spielte ihr einen Streich – oder
derjenige versteckte sich meisterhaft. Der Haken dabei war nur, dass es
praktisch nichts gab, wohinter man sich verstecken konnte. Immer wieder blieb
sie stehen und drehte sich um, sah jedoch nichts außer rissiger Erde, Sand und
vereinzelten Felsbrocken.
Unwillkürlich beschleunigten sich
Gwens Schritte und sie fiel in einen leichten Dauerlauf, bis sie schließlich
stolperte und der Länge nach auf den Boden schlug. Ihre Handflächen brannten
von unzähligen, mikroskopisch feinen Rissen, welche vom Sand herrührten, aber
sonst war ihr nichts passiert. Mühsam rappelte sich Gwen wieder auf und sah
sich erneut um und diesmal sah sie die Bewegung.
„Wer... Wer ist da?“, fragte sie
mit klopfendem Herzen und war sichtlich erleichtert, als sie einen schwarzen
Vogel erkannte.
In einem nervösen Kichern löste
sich Gwens Anspannung auf und sie wurde wieder ruhiger.
„DU hast mich aber erschreckt.
Komm doch her, Kleiner, ich tu dir nichts.“
Als hätte der Vogel verstanden
hüpfte er näher und sah die junge Frau aus großen schwarzen Knopfaugen an. Nun
konnte Gwen auch erkennen, dass es sich um einen Raben handelte, den größten
den sie je gesehen hatte.
„Du kannst mir auch nicht sagen,
in welche Richtung ich gehen muss, oder?“, fragte sie als sie aufstand und den
Sand von ihrer Kleidung klopfte.
Der Rabe krächzte nur und begann
ein paar Schritte zu hüpfen, wobei er leicht mit den Flügeln flatterte.
„Also Reden kannst du anscheinend
nicht“, stellte Gwen fest, die zuerst damit gerechnete hatte, dass der Rabe wie
Jacques vielleicht sprechen konnte.
Der Vogel sah sie nur mit schief gelegtem Kopf an und hüpfte dann
weiter, drehte sich um, flatterte erneut und hüpfte wieder ein kleines Stück.
„Ich soll wohl mitkommen, was?“
Zustimmendes Krächzen seitens des
Tieres.
Nach kurzem Zögern folgte Gwen
dem Raben. Schließlich war es egal, wo sie lang ging. Hauptsache sie KAM
endlich irgendwo an.
Es dauerte gar nicht lange, bis
vor ihr am Horizont ein schwarzer Turm in Sicht kam. Von einer Sekunde auf die
andere stand er dort, statt langsam größer zu werden. Hatte er schon die ganze
Zeit dort gestanden und sie hatte ihn nur nicht gesehen? Oder war er tatsächlich
gerade erst erschienen? Gwendolin wusste es nicht und wenn sie ehrlich war,
dann wollte sie es auch gar nicht wissen.
Der Rabe hüpfte ein ganze Stück
vor ihr und, ohne dass Gwen es merkte, verlangsamte sie ihre Schritte. Sie
hatte es also geschafft – dies hier musste der Turm von Lysander sein, dem
Magier der Oliver gefangen hielt.
Zögernd und immer langsamer
laufend kam Gwen schließlich direkt vor dem Turm an. Hoch oben, am einzigen
Fenster, das sie von ihrem Standpunkt aus sehen konnte, blickte eine Gestalt
auf sie herab. Sie war vollständig in Schwarz gekleidet und hatte eine Kapuze
tief ins Gesicht gezogen, so dass das Gesicht nicht zu sehen war. Die Gestalt
streckte die Hand aus und der Rabe flog sofort hinauf, um sich auf dem Arm
seines Herrn niederzulassen.
„Du kommst spät“, sprach der
Fremde – denn es war eindeutig eine männliche Stimme – sie an. „Dir bleibt
nicht mehr viel Zeit, wenn du deinen Freund retten und in eure Welt
zurückkehren willst.“
„So?“, fragte Gwen schnippisch
und fühlte trotz ihres Unbehagens Wut in sich aufsteigen. „Das kann Euch doch
nur Recht sein! IHR haltet Oliver doch gefangen!“
„Man hat dir erzählt, dass
Lysander ihn gefangen hält“, antwortete der Mann. „Aber ich bin nicht
Lysander. Sie wollten dir das nur glauben machen.“
„Warum sollte ich das glauben?
Habt Ihr Beweise für solche Anschuldigungen?“ So leicht wollte Gwen sich nicht
überzeugen lassen.
„Wie soll ich es denn beweisen?“,
antwortete er mit einer Gegenfrage. „Ich wurde hier eingesperrt und bin genauso
gefangen wie dein Freund. Mein einziger Kontakt zur Außenwelt sind ein
magischer Kristall und Ragnheidur, mein treuer Freund.“
Bei diesen Worten streichelte er
den Raben, der es sich mit einem zufriedenen Krächzen gefallen ließ.
„Er war es, der dir immer wieder
mit Rat und Hinweisen zur Seite stand.“
„Die Botschaften waren von Euch?“
Verblüfft sah Gwen weiterhin nach
oben. Wenn es stimmte, wenn dieser Jemand dort oben tatsächlich ebenfalls ein
Gefangener war...
„Wie lautet Euer Name?“, fragte
sie rasch und glaubte doch die Antwort schon zu kennen.
„Kannst du dir das nicht denken?“
Die Stimme des Fremden klang leicht enttäuscht. „Mein Name ist Lyran.“
© Petra Staufer
Dieser Text darf NICHT ohne meine ausdrückliche Genehmigung weiterverbreitet und veröffentlicht werden!
Sorry, dass ich das dazuschreiben muss, aber es kam schon vor.