Kapitel
V - Lyran
Er konnte die Gestalt nur als
schwarzen Schatten im Gegenlicht erkennen. Noch nie hatte er das Gesicht seines
Peinigers gesehen, denn dieser stand stets so, dass er das Licht im Rücken
hatte.
Seine Augen schmerzten von der
ungewohnten Helligkeit, welche die Fackeln im Gang hervorriefen. Vermutlich war
es nicht einmal besonders hell, aber für jemanden der tage- vielleicht auch
schon wochenlang in absoluter Finsternis lebte, war dieser Lichtschein wie
tausend glühende Nadeln, die sich in seine Augen bohrten.
„Bald schon hast du gänzlich
verloren“, drang die ruhige Stimme der Gestalt an sein Ohr. „Sie ist hier...
aber sie wird dir nicht helfen können und sollte sie es versuchen, wird das ihr
und dein Schicksal besiegeln.“
„Unterschätz sie nicht“, begehrte
er gegen die Schattengestalt auf. „Sie ist mutig und sie wird es schaffen. Dem
Tapferen hilft das Glück sagt man. Sie WIRD dich besiegen.“
„Wir werden sehen“, erwiderte
sein Gegenüber kühl und verließ den finsteren Kerker.
Er blieb zurück – allein mit
seinen Gedanken, seinem Schmerz... und seiner Hoffnung.
*
Soeben war die Kutsche über die
Zugbrücke, die den tiefen Schlossgraben überspannte, gerollt und nun fuhren sie
durch ein großes Tor mitten auf den Innenhof des Schlosses. Geschäftiges
Treiben herrschte dort – Diener in fantasievollen Uniformen eilten vorüber,
Händler stritten mit dem Oberkoch über das frische Gemüse und feilschten um den
Preis, in einer Ecke wurde gerade ein Pferd frisch beschlagen, Kinder sprangen
lachend zwischen den Leuten umher und versuchten sich zu fangen – kurz: Alles
schienen fröhlich und guter Dinge.
Ohne dagegen zu protestieren
hatte sich Gwen von einem livrierten Diener aus der Kutsche helfen lassen und
sah sich nun mit großen Augen um. So merkte sie es auch nicht, dass ein Mann
auf sie zukam. Überall dort, wo er vorbeikam, verstummte die Menge für einen
Augenblick und grüßte höflich.
Erst als Jacques Gwen am Kleid
zog und sich übertrieben räusperte, drehte sich die junge Frau und blickte
direkt in zwei warme braune Augen.
Gwen war enttäuscht und
verzaubert zugleich. Dieser Mann vor ihr war nicht Oliver, dennoch erkannte sie
in ihm sofort Lyran. Oliver hatte ihn oft genug ausführlich beschrieben und es
stimmte wirklich ALLES. Genau so hatte sie ihn sich stets ausgemalt. Die
dunklen Haare, die etwas streng zurückgekämmt waren, die hohen Wangenknochen...
Es war einfach perfekt.
„Mylady, ich kann gar nicht sagen
wie froh ich bin, dass Ihr den Weg hierher gefunden habt“, sagte Lyran, ergriff
Gwens Hand und gab ihr einen formvollendeten Handkuss.
Sichtlich verlegen zog Gwendolin
ihre Hand zurück, was Lyran mit einem Lächeln bedachte.
„Ich... ich muss zugeben, ich bin
etwas verwirrt“, erwiderte sie. „Ich verstehe nicht ganz, wieso ich hier bin.
Diese Nachricht... war sie von Euch? Wie konntet Ihr sie mir denn schicken?“
„Alles zu seiner Zeit“,
antwortete Lyran nachsichtig. „Ich werde all Eure Fragen beantworten, aber
nicht hier. Gestattet mir, Euch in eine etwas privatere Umgebung zu geleiten.“
Er bot ihr seinen Arm und nach
kurzem Zögern nickte Gwendolin und ließ sich von dem Lord ins Schloss führen.
*
Seine Handgelenke schmerzten noch
schlimmer als zuvor und er fühlte wie warmes Blut seine Arme hinablief.
Verzweifelt hatte er immer wieder den aussichtslosen Versuch unternommen, sich
von seinen Fesseln zu befreien. Nun hatte er resigniert aufgegeben und saß, die
Arme von den Ketten auf halber Höhe gehalten, auf dem Kerkerboden.
Sie war hier, hatte sein Peiniger
gesagt. Hier in dieser Welt mit all ihren Tücken und Gefahren und er konnte
nichts tun, um sie zu warnen und sie zu unterstützen.
„Es müsste schon ein Wunder
geschehen“, seufzte er mutlos. „Eher fangen Steine an zu sprechen, als dass ich
hier herauskomme. Was habe ich nur getan?“
*
Als Lyran sich ihr erneut
zuwandte, wirkte er sehr besorgt.
„Gwendolin“, begann er sanft zu
sprechen und zum allerersten Mal fand sie ihren Namen schön. Die Art wie Lyran
ihn aussprach, brachte ihn auf wunderbare Weise zum Klingen. „Ich weiß, es
kommt alles sehr überraschend für Euch, aber glaubt mir, ich hätte es nicht
getan, wenn ich einen anderen Ausweg gewusst hätte.“
„Was ist denn passiert?“, fragte
Gwen vorsichtig nach. Es machte ihr fast Angst, dass Lyran so sprach.
„Könnt Ihr es Euch denn nicht
denken?“, antwortete Lyran und beobachtete genau ihre Reaktion als er
weitersprach. „Oliver – er ist ebenfalls hier in dieser Welt und er ist in
großer Gefahr.“
„Was?“ Gwendolin ließ sich auf
einen Stuhl sinken. „Aber... WAS ist denn nun geschehen?“
„Das weiß ich nicht so genau. Er
war eines Tages einfach da. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Absicht war,
dafür wirkte er zu überrascht, aber noch bevor ich ihn fragen konnte, ist etwas
Furchtbares geschehen – er wurde entführt.“
Gwendolin schluckte. Sie konnte
das einfach nicht glauben. Oliver sollte entführt worden sein? Aber von wem?
Und warum? Er hatte doch anscheinend niemandem etwas getan...
„Weißt du... ich meine, wisst
Ihr, wer das getan hat?“, fragte sie leise.
Lyran nickte. „Ich hab einen
Verdacht, ja. Es gibt einen Schwarzmagier, dem ich das durchaus zutrauen würde.
Sein Name ist Lysander.“
Die junge Frau überlegte.
„Lysander... diesen Namen habe ich noch nie gehört. Er sagt mir rein gar
nichts. Aber warum sollte er Oliver entführen?“
„Genau das hatte ich gehofft von
EUCH zu erfahren.“ Lyran wirkte mutlos und etwas enttäuscht.
„Weiß man denn, wo er jetzt sein
könnte? Können wir denn nicht etwas für Oliver tun?“, fragte Gwen hoffnungsvoll
weiter.
„Einige meiner Leute sind auf der
Suche nach Informationen über diesen Magier. Wir werden wohl oder übel warten
müssen, bis sie zurückkehren“, antwortete Lyran.
In diesem Moment klopfte es und
ein Diener öffnete die Tür. Er gab dem Lord zu verstehen, dass er ihn kurz
sprechen wolle, es wäre dringend. Lyran entschuldigte sich bei Gwendolin und
verließ den Raum.
Zutiefst beunruhigt stand Gwen
auf und begann im Raum auf und ab zu gehen. Sie konnte einfach nicht mehr still
sitzen. Hoffentlich war Oliver nichts Schlimmes geschehen. Was wollte dieser
Lysander nur von ihm?
Sie trat ans Fenster und sah
hinaus. Draußen hatte sich kaum etwas verändert und dennoch schien die Sonne
einiges von ihrem Licht und ihrer Wärme verloren zu haben. Für einen Moment
ließ sie ihren Gedanken freien Lauf und wünschte sich, ein Zeichen – ein
winziges Zeichen nur – zu erhalten, das ihr einen Hinweis auf Olivers momentan
Aufenthaltsort geben konnte.
Vor der Tür klirrte etwas und
Gwen wandte ruckartig den Kopf. Kam Lyran vielleicht schon zurück? Doch nichts
geschah.
Mit einem Seufzer blickte sie
wieder aus dem Fenster und legte eine Hand auf das Fenstersims. Es raschelte
leise, als ihre Finger auf Pergament trafen.
‘Seltsam’, dachte sich Gwen. ‘Ich
bin mir ganz sicher, dass hier vorhin noch nichts gelegen hatte.’
Das Stück Papier glich dem,
welches sie heute Morgen beim Frühstück gefunden hatte. Nur war es diesmal
nicht versiegelt und es war bereits beschrieben.
In kleinen verschlungenen
Buchstaben standen dort die Worte:
Saxa loquuntur
“Die Steine sprechen? Was soll
das denn?“, wunderte sich Gwen als sie rasche Schritte hörte, die sich der Tür
näherten. Rasch legte sie das Pergament zurück auf die Fensterbank, wo es
gleich darauf ein Windstoß fortwehte. Erschrocken versuchte die junge Frau noch
es festzuhalten, doch vergeblich. Sie sah, wie ein Rabe angeschossen kam, nach
dem Papier schnappte und mit eiligen Flügelschlägen aus ihrem Blickfeld
verschwand.
Die Tür ging auf und Lyran trat
ein. Er blickte etwas besorgt, als er Gwen am Fenster sah und trat neben sie,
um es zu schließen.
„Der Wind weht frisch“, sagte er
sanft, „und ich möchte nicht, dass Ihr Euch erkältet.“
Seine Augen hatten im Licht der
bereits untergehenden Sonne einen leichten Violettstich bekommen, der Gwen in
seinen Bann zog.
„Oh, mir ist nicht kalt“,
antwortete sie und beschloss vorerst nichts von dem Pergament zu erzählen.