Kapitel
VII - Flucht
„Die Zeit spielt gegen sie... In
zwei Tagen schließt sich das Tor und sie ist hier gefangen.“
Die schwarzgekleidete Gestalt
stand am Fenster und blickte hinaus. Ihre Finger spielten mit einem Zettel,
welchen ihm sein Rabe gebracht hatte. Der Vogel selbst saß auf dem Fenstersims
und sah die Gestalt abwartend an. Er spürte, dass er gleich wieder mit einem
weiteren Auftrag losgeschickt werden würde.
*
Mit heftigen Kopfschmerzen wachte
Gwen am nächsten Morgen auf. Nur vage erinnerte sie sich, dass Lyran sie zurück
auf ihr Zimmer gebracht hatte. Er hatte durch Jacques noch warme Milch kommen
lassen und war dann gegangen.
Gwen hasste warme Milch, aber
Jacques hatte nicht eher Ruhe gegeben, bis sie zumindest die Hälfte davon
getrunken hatte und sie war auch tatsächlich müde geworden.
Kaum hatte sie an den kleinen
Fuchs gedacht, da ging auch schon die Tür auf und Jacques kam herein. Er
balancierte ein Tablett mit ihrem Frühstück auf dem Kopf und plapperte sofort
drauf los.
„Guten Morgen. Na, wie geht es
dir? Gut geschlafen? Du siehst blass aus... ich wette du hast dich gestern
erkältet. Was läufst du auch nachts durchs Schloss? Noch dazu nur im Nachthemd.
Gut, dass dich Lord Lyran gefunden hat...“
„Langsam, Jacques, langsam“,
stöhnte Gwen und hielt sich den Kopf. „Du redest wie ein Wasserfall.“
Der kleine Fuchs neigte den Kopf,
ließ das Tablett vorsichtig auf den Boden rutschen und hüpfte zu ihr aufs Bett.
Prüfend sah er sie an und hielt schließlich eine Pfote an ihre Stirn.
„Also Fieber hast du keines“,
stellte er fest. „Aber ich glaube es ist besser, wenn du dich heute etwas
schonst. Lord Lyran war schon sehr in Sorge.“
„Warum denn?“, fragte Gwen
erstaunt. „Außerdem sollten wir so schnell wie möglich Oliver finden. Weiß man
denn inzwischen, wo dieser Lysander wohnt?“
Jacques sah etwas betreten zur
Seite. Genau diese Frage sollte er ja nicht beantworten – so lauteten die Anweisungen
des Lords. Er hatte nachts schon gemerkt, dass mit Gwen etwas nicht stimmte und
sie würde sich erst einmal erholen müssen.
„Jacques, raus mit der Sprache“,
forderte Gwen. „WO lebt er.“
„Naja...“, druckste der Fuchs
herum. „Gestern kam ein Bote der behauptet, man hätte Lysander gesehen... Er
lebt angeblich in einem Turm inmitten einer unwirtlichen Gegend... Aber du
glaubst doch hoffentlich nicht, dass du alleine gegen ihn antreten kannst...
Noch dazu in diesem Zustand.“
„Wie, in diesem Zustand? Ich habe
doch nur Kopfschmerzen“, wunderte sich Gwendolin. „Vertrau mir, es geht mir
wirklich gut.“
„Trotzdem darfst du da nicht
alleine hin“, bestimmte Jacques. „Anweisung von Lord Lyran. So und jetzt
frühstücke und ruh dich aus. Ich seh nachher noch mal nach dir.“ Mit diesen
Worten sprang er vom Bett und verließ fluchtartig das Zimmer.
Kopfschüttelnd sah Gwen ihm nach.
So wie Jacques sie gerade behandelte kam sie sich fast wie eine Gefangene vor.
Fehlte nur noch, dass sie in ihrem Zimmer eingeschlossen wurde.
Nachdenklich widmete sie sich
ihrem Frühstück.
‚Es möge auch die andere Seite
gehört werden’ hatte einer der Sprüche gelautet. Sollte das jetzt heißen, dass
sie sich erst einmal Lysanders Version anhören sollte? Welchen GRUND er gehabt
hatte, Oliver gefangen zu nehmen? Aber geriet sie dann nicht selbst in die
Hände des Schwarzmagiers, wenn sie das tatsächlich tat?
Gwen schob das Tablett zur Seite.
Sie hatte keinen Hunger mehr. Es war eine verzwickte Situation. Auf der einen
Seite hatte sie den Rat bekommen, auch die zweite Version zu hören, aber auf
der anderen Seite brachte sie das vielleicht in größte Gefahr – und nicht nur
sie, sondern auch Oliver.
Die junge Frau stand auf und
dabei fiel ein weiterer Zettel zu Boden. Klar, wie sollte es auch anders sein?
Kaum brauchte sie einen Rat, schon bekam sie einen. Gespannt öffnete sie das
gefaltete Blatt. Diesmal waren die Buchstaben wieder feuerrot und flackerten
leicht.
Incedit in Scyllam, qui vult vitare
„Es gerät in die Fänge der
Skylla, wer der Charybdis ausweichen will“, übersetzte Gwen und hatte gleich
darauf wieder nur Staub in der Hand.
„Na toll, das hilft mir jetzt
ungemein“, meinte Gwen und wedelte die Überreste des Zettels fort.
„Skylla und Charybdis.... Skylla und
Charybdis… das hab ich schon mal gehört…Natürlich, die griechischen Sagen.
Hm... heißt also, dass ich, sollte ich Lysander ausweichen, einem anderen,
genauso gefährlichen Gegner in die Arme laufe? Ermutigend, wirklich.“
Seufzend stand Gwen auf und ging
zur Tür. Abgeschlossen... Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Jacques hatte
sie tatsächlich eingeschlossen! Dieser kleine Fuchs konnte was erleben, wenn er
wiederkam.
Rastlos wanderte sie im Zimmer
auf und ab. Es nutzte nichts. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr kam
sie zu der Überzeugung, dass sie tatsächlich Lysanders Meinung einholen musste.
Sie musste einfach wissen, WARUM er Oliver entführt hatte.
Allerdings war sie auch sicher,
dass Lyran sie nicht einfach gehen lassen würde. Das hatte ja Jacques auch
schon angedeutet. Sie würde sich wohl aus dem Schloss schleichen müssen.
Eilig begann
Gwendolin den Schrank nach brauchbarer Kleidung zu durchforsten, doch zunächst
erfolglos. Die Kleider, die sie fand, waren zwar alle wunderschön, aber denkbar
ungeeignet für ihr Vorhaben. Schließlich entdeckte sie ganz hinten im Schrank
eine Kombination aus Hose, Hemd und Weste. Eindeutig Männerkleidung, aber wie
geschaffen für sie.
Rasch hatte
sich Gwendolin umgezogen. Die Sachen passten ihr wie angegossen. Ihre langen
dunklen Haare waren zum Zopf gebunden und sie stopfte sie unter den Kragen der
Weste – so gingen sie ihr wenigstens nicht im Weg um.
Nachdenklich
trat Gwen ans Fenster und blickte hinaus. Ihr Zimmer lag viel zu hoch, um
hinunterzuklettern. Selbst wenn sie wie in einem schlechten Film die Bettlaken
zusammenknoten würde, reichte es nicht bis zum Boden...
Als Jacques
kurze Zeit später das Zimmer betrat war es leer, das Fenster geöffnet und ein
langes Seil aus zerrissenen Bettlaken war an der Fensterbank befestigt.
Der kleine Fuchs
erstarrte und machte dann auf dem Absatz kehrt, um so schnell ihn seine Pfoten
trugen zu Lord Lyran zu laufen und ihm davon zu erzählen.
Kaum war
Jacques verschwunden, öffnete sich der Schrank einen Spaltweit und Gwen lugte
vorsichtig hinaus. Sie unterdrückte ein Grinsen, vergewisserte sich, dass
niemand mehr im Zimmer war und huschte dann auf den Gang. Endlich konnte sie
ihre Suche beginnen.