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Dienstag, 23. Dezember 2014

Die Macht der Phantasie - Teil 10

 Kapitel X - FAC QUOD VIS!


Obwohl Gwendolin mit dieser Antwort gerechnet hatte, so zuckte sie doch leicht zusammen. Lyran... Er war Lyran... Dann war der andere Mann kein geringerer als Lysander.
Sie war die ganze Zeit in Olivers Nähe gewesen, ohne es zu merken. Nun verstand Gwen auch die misstrauischen Blicke Margowas. Sie musste gewusst haben, was für ein Spiel der Magier trieb... Jacques! Ob der kleine Fuchs auch mit den anderen unter einer Decke steckte? Vermutlich ja, so wie er sich am Schluss benommen hatte...
Tiefe Enttäuschung stieg in Gwendolin auf. Sie hatte Jacques vertraut, hatte ihn richtig ins Herz geschlossen.
„Wie kann ich Euch befreien?“, fragte sie schließlich Lyran, der immer noch geduldig am Fenster stand und auf eine Reaktion der jungen Frau wartete.
„Dazu musst du erst Oliver retten“, antwortete er und obwohl Gwen sein Gesicht nicht sehen konnte, so war sie doch davon überzeugt, dass ein leises Lächeln auf seinen Lippen lag.
„Nur ihr beide zusammen könnt das Siegel brechen, das mich in diese Mauern zwingt.“
„Aber wie? Was müssen wir tun?“
„Das kann und darf ich dir nicht sagen. Die Lösung ist der Weg dorthin.“
Gwendolin seufzte. „Redet Ihr immer in Rätseln?“
„Ich bin wie ich bin, Mylady.“
Wieder schien Lyran zu lächeln.
Ratlos stand die junge Frau vor dem Turm und blickte hinauf. Was sollte sie jetzt tun?
„Geh zurück ins Schloss, Ragnheidur wird dir den Weg weisen“, fuhr Lyran fort und sogleich flatterte der Rabe mit den Flügeln und kam zu Gwendolin.
„Befreie Oliver, er schafft es nicht alleine. Das hat er sich selbst so auferlegt. Geh jetzt und zögere nicht länger. Der Weg ist weit und die Zeit spielt gegen dich.“
„Aber wie soll ich es dann schaffen?“
„Du wirst es schaffen“, erwiderte Lyran zuversichtlich. „Folge dem Raben, er wird dich führen.“
Nach diesen Worten zog er sich in den Schatten des Turms zurück.
Gwendolin blieb keine andere Wahl, als sich an die Worte Lyrans zu halten. Stumm folgte sie Ragnheidur, der mit kräftigen Flügelschlägen vor ihr herflog.

*

Trotz größter Anstrengung gelang es Oliver nicht, seine Fesseln zu lösen. Dummerweise war das sein eigener Fehler. ER SELBST hatte beschlossen, dass kein Gefangener die Ketten lösen konnte. Nun, zumindest hatte er es geschafft, etwas Licht in seiner Zelle zu erschaffen. Die Zeit der Trostlosigkeit und Verzweiflung in der Dunkelheit war vorbei. Nein, so schnell gab er nicht auf.
Gwendolin war auf dem Weg zu ihm, da war er sich sicher. Sie würde sich nicht von Lysander täuschen lassen. Gemeinsam würden sie es schaffen, die Ketten zu sprengen und Lysander in seine Schranken zu weisen.

*

Unermüdlich folgte Gwendolin dem Raben durch die Dunkelheit. Schon längst spürte sie ihre Beine nicht mehr und setzte immer nur einen Fuß vor den anderen. Wie sollte sie es nur rechtzeitig zum Schloss zurück schaffen?
‚Jetzt sollte es einfach ‚Plopp’ machen und eine magische Kraft bringt uns zum Schloss’, dachte sie bei sich. Kaum war der Gedanke zu Ende gedacht, tat es tatsächlich ein PLOPP.
Gwendolin fühlte sich von einer unsichtbaren Macht gepackt und rasend schnell fortgetragen. Die Dunkelheit unter ihr verhinderte, dass sie etwas sah, aber Gwen war sich sicher, dass alles nur verschwommen zu sehen gewesen wäre.
Ganz sanft wurde sie schließlich wieder abgesetzt und fand sich in dem Innenhof wieder, in welchem sie die ‚sprechenden Steine’ gefunden hatte.
War Gwen zuvor noch zu verblüfft gewesen, um zu reagieren, so fragte sie sich jetzt doch, was geschehen war.
„Ich habe mir gewünscht, dass wir auf diesem Weg hierher gelangen“, überlegte sie flüsternd. „Warum ist mir das nicht schon früher aufgefallen? Der Teppich im Waldschloss... Die Männerkleidung im Schrank!“
Langsam dämmerte es ihr, dass es zwischen ihren Wünschen und den ‚Zufällen’ eine Verbindung gab.

Ragnheidur krächzte neben ihr und lenkte Gwendolins Aufmerksamkeit erneut auf die Steine.

In hoc signo vinces

“In diesem Zeichen wirst du siegen”, wiederholte Gwendolin den Spruch aus ihrem Traum und ihr kam das Bild des rosenumwundenen Dolches in den Sinn. Gut, nun würde sie versuchen, ob sie mit ihrer Theorie Recht hatte. Sie konzentrierte sich völlig auf das Bild aus ihrem Traum, stellte sich den Dolch in allen Einzelheiten vor und fixierte dabei ein Stück Erde vor den Steinen.
Im ersten Moment schien es fast so, als läge sie falsch und nichts rührte sich, doch dann bröckelte tatsächlich die Erde und eine kleine Knospe erschien. Rasend schnell entwickelte sie sich zu einem Pflänzchen, wuchs weiter und gewann an Größe, bis sie schließlich Blüten ansetzte und diese aufbrachen. Der weiße Glanz der Blütenblätter blendete Gwendolin und als sie ihre Augen wieder öffnete, steckte in den Ranken genau der Dolch, den sie sich vorstellt hatte.
Vorsichtig bog Gwendolin die Zweige zur Seite und befreite den Dolch von seinen dornigen Fesseln. Nun hatte sie wenigstens eine Waffe, die sie gegen Lysander einsetzen konnte. Auch wenn ihr noch nicht ganz klar war, wie ausgerechnet ein Dolch ihr weiterhelfen sollte.

Ein erneutes Krächzen des Raben ließ Gwendolin aufblicken. Der Vogel saß vor einer Mauer und im ersten Moment wusste Gwen nicht so recht, was er von ihr wollte. Doch dann entdeckte sie den unregelmäßigen Stein und trat näher.
„Du meinst diesen hier, nicht?“, fragte sie rhetorisch und tastete den Stein vorsichtig ab, um ihn dann kräftig zu drücken.
Ein leises Klicken war zu hören und dann glitt der Stein mit einem schleifenden Geräusch zur Seite und gab den Eingang zu einem dunklen Gang frei. Sofort hüpfte der Rabe in das Loch und verschwand im Dunkel.
„Warte auf mich!“, rief Gwendolin halblaut und zwängte sich durch die enge Öffnung. Sie passte gerade so durch und befürchtete schon, Platzangst zu bekommen, doch tatsächlich war nur der Durchgang so eng und der Gang weitete sich schnell.
„Ich hoffe, du weißt wohin es geht“, murmelte Gwen und tastete sich vorwärts. Es war so dunkel, dass sie nichts mehr erkannte und es dauerte eine ganze Weile, bis sie auf die glorreiche Idee kam sich ein Licht zu erschaffen.
Nun rollte eine tennisballgroße Kugel aus weichem, gelblichem Licht vor ihr und dem Raben her und leuchtete ihnen den Weg. An einer Gabelung hielt die Kugel an, doch hier schien sogar Ragnheidur nicht mehr weiterzuwissen. Mit schiefgelegtem Köpfchen sah er abwechselnd in den linken und den rechten Gang und krächzte dabei so hilflos, dass Gwendolin gegen ihren Willen lachen musste.
Dann überlegte sie. „Hm... gut, versuchen wir es so“, sagte sie schließlich bestimmt. „Die Kugel wird uns den Weg bis zu Oliver zeigen.“
Für einen Moment befürchtete die junge Frau, dass es diesmal nicht funktionieren würde, doch dann setzte sich die Kugel wieder in Bewegung und führte sie in den linken Gang.

Weiter und weiter führte ihr Weg sie durch das Labyrinth der Gänge, das immer größer zu werden schien. Ohne die Kugel hätte sich Gwendolin hoffnungslos verirrt, soviel stand fest.
Endlich kamen sie zum Stehen und erneut musste Gwen einen Stein zur Seite schieben, um den Gang wieder verlassen zu können.
‘Hoffentlich steht keiner auf der anderen Seite’, dachte sie und spähte vorsichtig aus dem Loch. Ein sanfter Lichtschein empfing sie und gleich darauf drang eine Stimme an ihr Ohr, die sie bisher nur vom Telefon her kannte.
„Gwen! Ich wusste doch, dass du es schaffen würdest.“
„Oliver?“ Schnell schlüpfte Gwendolin aus dem Gang und ziepte dabei den Raben an den Schwanzfedern, was dieser mit einem protestierenden Krächzen quittierte.
„T’schuldige, Kleiner, war keine Absicht“, entschuldigte sich Gwendolin bei dem Vogel und auch Oliver grinste.
„Ragnheidur, kleiner Freund. Seit wann bist du so empfindlich?“
„Du kennst den Raben?“
„Natürlich“, erwiderte Oliver und fügte dann erklärend hinzu: „Ich habe ihn mir ja ausgedacht.“
„Du hast ihn dir... ausgedacht?“
Gwens Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen.
Oliver lachte und deutete dann auf seine Ketten.
„Mach mich doch bitte erst mal los, ich erkläre es dir dann in Ruhe“, bat er.
„Wie soll ich das denn machen? Ich habe nur das hier“, erwiderte Gwendolin und zog den Dolch hervor, den sie in ihren Gürtel gesteckt hatte.
„Du hast ihn also schon?“, staunte Oliver. „Der magische Dolch ist das einzige, was uns hier wieder rausbringen kann. Mit ihm kannst du die Fesseln leicht lösen, versuch es einfach.“
„Du meinst doch nicht, er schneidet sich durch das Metall, oder?“, fragte Gwen skeptisch.
„Vertrau mir und was noch viel wichtiger ist – vertrau auf dich und deine Fähigkeiten.“

Skeptisch näherte sich Gwendolin mit der Spitze des Dolchs den Fesseln um Olivers Handgelenke. Eigentlich konnte es doch nicht gehen, dass die Ketten von einem Dolch zerschnitten wurden und richtig, so sehr sich Gwen auch anstrengte, es gelang ihr nicht. Die Eisenschellen zeigte nicht einmal einen Kratzer.
„Gwendolin, du musst daran glauben“, sagte Oliver eindringlich. „Lysander weiß bereits, dass du hier bist. Das ist unsere einzige Chance zur Flucht.
„Aber Silber schneidet doch kein Eisen“, beharrte Gwen und versuchte es weiterhin.
„Wenn du es willst funktioniert es, glaub mir.“

Auf dem Gang waren Schritte zu hören, die sich rasch näherten.

„Gwendolin, bitte!“ Fast schon flehend sah Oliver die junge Frau an.
Diese schloss kurz die Augen und holte einige Male tief Luft.
„OK... ok... Es ist ein magischer Dolch... und wenn ich es mir vorstelle, klappt es auch“, sagte sie leise und mehr um sich Mut zu machen. Erneut setzte sie den Dolch an der Eisenschelle an und stellte sich diesmal vor, wie die Silberklinge leicht durch das Metall glitt.

Das Klirren der Ketten, als sie gegen die Wand schlugen, zeugte vom Erfolg ihres Versuchs.
„Gut gemacht“, lobte Oliver. „Jetzt die zweite – und beeil dich.“
Schon drehte sich ein Schlüssel im Türschloss und gerade als die zweite Kette fiel, ging die Kerkertür auf und eine schwarzgekleidete Person trat ein.

 © Petra Staufer
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Sorry, dass ich das dazuschreiben muss, aber es kam schon vor.