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Mittwoch, 10. Dezember 2014

Die Macht der Phantasie - Teil 6

Kapitel VI - Saxa loquuntur


Unruhig wälzte Gwendolin sich von einer Seite auf die andere. Lyran hatte sie schon bald wieder verlassen mit den Worten, sie müsse sich ausruhen. Vorher hatte er ihr noch alles über Lysander erzählt, was er selbst wusste.

Er sei ein Schwarzmagier mit unheimlichen Fähigkeiten und erst vor kurzem in diese Welt gekommen. Niemand wisse genau wie er aussehe, aber er sei äußerst gefährlich und mit Oliver habe er die einzige Person gefangen genommen, die ihm hätte schädlich werden können. WARUM das so war, hatte Lyran ihr nicht sagen können, aber er hoffte, dass sie, Gwendolin, über die gleichen Fähigkeiten verfügte wie Oliver, und dass sie damit Lysander besiegen konnte.

KONNTE sie das denn? Bisher war ihr noch nicht aufgefallen, dass sie besondere Fähigkeiten haben sollte. Sie hatte höchstens das Talent in Schwierigkeiten zu geraten. So wie die Sache mit dem Wandteppich und ihre daraus entstandene Ohnmacht. Nein, sie hatte gewiss keine Kräfte, die Oliver helfen konnten.

Erneut drehte sie sich auf die andere Seite und starrte in die Dunkelheit des Zimmers. Da war noch etwas, das sie nicht schlafen ließ. Diese mysteriösen lateinischen Sätze. Dem Tapferen hilft das Glück... Die Steine sprechen...
Beide Male waren die Zettel, auf welchen diese Worte standen, verschwunden, nachdem sie diese übersetzt hatte. Langsam fragte sich Gwen, ob es Botschaften für SIE waren, oder ob sie diese Zettel nur durch Zufall erhalten hatte.

Der Ruf eines Käuzchens drang durch die nächtliche Stille und ließ Gwendolin zusammenzucken. Tapfer... na besonders tapfer war sie wohl nicht, wenn sie sich schon vor Eulenrufen gruselte. Und sprechende Steine... seit wann konnten Steine sprechen? Sie waren leblose Materie, hart und unbiegsam.

Je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer war sich Gwen, dass es eine an sie gerichtete Botschaft war. Vielleicht eine Art Rätsel, das sie lösen musste. Sprechende Steine... WIE konnten Steine sprechen? Sie konnten eine Geschichte erzählen, wenn man etwas in sie hineinritzte...
Ja, das konnte es sein! Vielleicht musste sie ein Bild suchen. Schließlich hatte auch alles mit einem Bild angefangen.

Gwendolin rutschte aus dem Bett und tappte mit bloßen Füßen ans Fenster. Es war einen Spalt breit geöffnet und die kühle Nachtluft ließ sie frösteln. DIESMAL hatte sie ein Nachthemd angezogen. Sie wollte sich nicht schon wieder einen dummen Kommentar von Jacques einhandeln. Wo war der kleine Fuchs überhaupt geblieben? Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie auf dem Schloss angekommen waren...
Egal. Sie würde sich später Gedanken um Jacques machen. Jetzt galt es erst einmal das Rätsel zu lösen. WO konnten sich hier sprechende Steine befinden?

Nachdem sich Gwendolin einen langen Umhang mit Kapuze übergeworfen hatte verließ sie ihr Zimmer und machte sich auf die Suche nach einem ungewöhnlichen Stein oder einem Bild, welches das Rätsel auflösen würde.
Sooft sie Schritte hörte, wich sie in einen Nebengang aus oder versteckte sich im Schatten einer Säule, denn irgendetwas warnte sie davor, sich jemandem mitzuteilen.

Bald jedoch fragte sich die junge Frau, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Das Schloss war wirklich gewaltig und die Gänge schienen kein Ende nehmen zu wollen. Mehr als einmal befürchtete Gwen im Kreis zu laufen, doch jedes Mal entdeckte sie kurz darauf ein Bild oder eine Statue, die sie bisher noch nicht gesehen hatte und sie beruhigte sich wieder.

Erneut trat sie durch eine Tür und stand mit einem Mal im Freien. Es schien sich um einen weiteren kleinen Innenhof zu handeln, vielleicht einen privaten Garten, auch wenn er sehr verwildert wirkte. Gerade so, als wäre seit langer Zeit niemand mehr dort gewesen.
Neugierig trat sie weiter hinaus, raus aus den Schatten der Mauern und geradewegs auf einen vom Mondlicht beschienenen Platz in der Mitte des Hofes. Ein plötzliches Krächzen ließ Gwendolin erschrocken zusammenzucken. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Dann erkannte sie den Urheber des Krächzens und sie begann nervös zu Kichern. In einem Baum am Rande des Hofes saßen einige Raben und beäugten sie misstrauisch. Vermutlich hatte sie die Vögel in ihrem Schlaf gestört.

„Dem Tapferen hilft das Glück“, murmelte Gwen und näherte sich immer mehr der Mitte. Jetzt konnte sie auch das Muster im Boden erkennen. Scheinbar willkürlich waren dort verschiedene Steine zusammengelegt worden, doch als sie direkt vor dem Mosaik stand bildeten die Steine Worte.

Audiatur et altera pars!

entzifferte Gwen mit einiger Mühe. „Es möge auch die andere Seite gehört werden...“
Wieder krächzte ein Rabe und sie sah kurz auf, kehrte aber sofort zu ihren Gedanken zurück. Was sollten diese Worte nun bedeuten? Da war sie gerade froh gewesen, die sprechenden Steine gefunden zu haben und nun bekam sie sofort das nächste Rätsel.
„Halt den Schnabel, du dämlicher Rabe!“, schimpfte sie halblaut, als der Vogel erneut krächzte. „Wie soll man sich denn konzentrieren, wenn du einen solchen Krach machst?“
Sie wandte sich wieder der Steinnachricht zu und stutzte. Die Worte hatten sich verändert! Nun lauteten sie:

Sapere aude!

Wage es, deinen Verstand zu gebrauchen! Eindeutig ein Tadel, doch von wem?

„Gwendolin!“
Erschrocken drehte sich die junge Frau um. Sie hatte nicht gehört, dass jemand den Hof betreten hatte. Es war Lyran, der eilig auf sie zukam und zwei Schritte vor ihr stehen blieb.
„Gott sei dank, ich habe Euch gefunden. Ich war etwas beunruhigt, als ich Euch nicht in Eurem Zimmer vorfand. Das Schloss ist groß und Ihr könntet Euch leicht darin verlaufen. Bitte versprecht mir so etwas nicht wieder zu tun.“

Im Mondlicht schimmerten seine Augen wieder violett, für einen Moment schienen sie sogar von innen heraus zu leuchten, doch dieser Eindruck verschwand sofort wieder.

„Ich... ich konnte nicht schlafen und wollte mich etwas umsehen“, stammelte Gwendolin, die sich wunderte, warum Lyran sie Nachts in ihrem Zimmer aufsuchen wollte, doch sie kam nicht dazu, sich länger Gedanken darüber zu machen, denn sie fühlte wie Lyrans Ausstrahlung sie wieder in seinen Bann schlug.
„Dieser Garten ist... recht hübsch, aber er sieht etwas vernachlässigt aus. Gibt es einen Grund dafür?“
„Nein, wir benutzen diesen Teil des Schlosses nur nicht mehr, wozu sollten wir dann den Garten pflegen?“, antwortete Lyran und griff nach Gwendolins Hand. „Kommt, ich bringe Euch zurück auf Euer Zimmer.“
Gwen warf einen letzten Blick zurück auf das Mosaik und war nicht im Geringsten überrascht, dass sie nun keine Worte mehr erkennen konnte.



 © Petra Staufer
Dieser Text darf NICHT ohne meine ausdrückliche Genehmigung weiterverbreitet und veröffentlicht werden!

Sorry, dass ich das dazuschreiben muss, aber es kam schon vor.